
Links: Finger von Kaiser Constantin - Rom, kapitolinische Museen... und rechts: mein bürgerlicher Zeigefinger
Links: Finger von Kaiser Constantin - Rom, kapitolinische Museen... und rechts: mein bürgerlicher Zeigefinger
Neulich habe ich mir beim Volleyball den Zeigefinger böse umgeknickt – nach 35 Jahren meine erste richtige Verletzung. Ich hatte lange Glück, jetzt war ich wohl mal dran. Plötzlich fand ich mich in der Welt der Arztpraxen wieder. Und was soll ich sagen: Die Erfahrungen dort sind wie oft sehr ernüchternd. Man fühlt sich als Kassenpatient in der Regel wie ein störender Sack Mehl, der lustlos von einer Ecke in die andere geschoben wird. Ich, als Patient, Organisationspsychologe und Mensch bin jedes mal erschüttert. Umso stärker wirkt auf mich, was ich heute erleben durfte.
Der Change-Experte Simon Sinek erzählt oft von „Noah“, einem Mitarbeiter, der in zwei unterschiedlichen Hotels völlig unterschiedlich agiert – je nachdem, wie er geführt wird. Mal lustig, charmant und frei – mal resigniert und vorsichtig. Hier geht es zu seinem Video: https://www.youtube.com/watch?v=vc4FEIYvkQc
Heute habe ich meine eigene „Noah“-Erfahrung gemacht. Nennen wir sie hier „Nora“ – ich habe sie heute kennengelernt.
Nora ist Sprechstundenhilfe in einer orthopädischen Praxis in Mönchengladbach. Professionell, herzlich, freundlich, lustig, präsent. Wow. „Früher“, sagte sie mir, in ihrer alten Praxis, sei das Klima dort „in sie hineingesickert“: sie wurde muffelig, genervt, unfreundlich. Heute kann man das kaum glauben: derselbe Mensch – andere Umgebung – eine ganz andere Energie. Und nicht nur sie – alle in dieser Praxis wirkten auf mich – ich kann es nicht anders sagen – richtig gut.
Vom ersten Moment an wurde ich hier mit echter Freundlichkeit und Aufmerksamkeit behandelt. Die Angestellten schauten mir ins Gesicht, wenn sie mir sprachen, fragten, wie sie helfen können, jeder wünschte mir zum Ende seines Prozess-Schritts gute Besserung. Trotz Stress und sicher keinem Spitzengehalt. Ich war neugierig und fragte nach. „Ich habe das zu Hause gelernt“, sagte Nora. „Sei freundlich, schau den Menschen an, behandle sie mit Respekt.“
Ist es so einfach? Wirklich? Haben all die anderen Mitarbeitenden in den kunden-unfreundlichen Praxen einfach solche Werte nicht Zuhause gelernt?
Ich habe Nora gefragt, ob das Team denn bespricht, wie es mit PatientInnen umgeht. Ob ein Plan hinter der herzlichen, offenen Art steht. Ihre Antwort: Nein. Es war vielmehr so: sie kam einst selbst als Patientin in die Praxis und wusste dann sofort, dass sie genau hier arbeiten will. Weil sie auf Augenhöhe behandelt wurde, von den Ärzten und vom Team gleichermaßen.
Und genau darin vermute ich den Kern: hier herrscht echte Begegnung auf Augenhöhe. Keine großen Konzepte, keine (hoffentlich) weisen Coaches, keine regelmäßigen Beratungen. Hier gibt es Führungskräfte (Ärzte), die auf Augenhöhe mit allen Anderen umgehen. Respektvoll, klar, freundlich, präsent. Das wirkt - und es zieht Menschen wie Nora an, die diese Haltung weitergeben. Und das wiederum wirkt auf alle PatientInnen und wahrscheinlich auch auf deren Krankheitsverläufe.
Es gibt diese Inseln, wo man spürt, wie sehr das Verhalten einzelner Menschen, insb. Führungskräfte, einen Unterschied macht. Nicht nur fürs Team, sondern für alle, die Kontakt zur Organisation haben. Wie viele PatientInnen sind mit einem Lächeln gegangen? Wie oft kamen sie gern wieder? Wie viele Nachsorgetermine mehr wurden wahrgenommen, weil man gelassener nochmal in die Praxis ging, statt sich zu gruseln vor dem Pflichttermin und der nächsten Geduldsprüfung?
Und wie viel wirtschaftlicher Erfolg dieser Praxis beruht auf genau dieser Kultur (und diese Praxis wächst seit Jahren)?
Was meint Ihr?